Publikationen:
Neben Fachbeiträgen in der Altenhilfe
(1992 , 1995) auch journalistische Zeitschriftenbeiträge (1998, 1999, 2005) über Literatur der Migranten (2004, 2006)

Orhan Kemal:
Beiträge über den türkischen Autor, Person und Werk, Verbreitung seiner Texte im deutschen Sprachraum, Lesungen.
über 72.Zelle(2010)

Einblicke auf Person und Werk Orhan Kemals

Vorbemerkung

Dem Fehlen Orhan Kemals in der Literaturwelt kann mal als nachkommender Wissenschaftler und als Literat keine Erkenntnis abgewinnen. Zufriedenheit schleicht sich schnell wieder ein, und zwar durch Entdeckung von Aussagen seiner Zeitgenossen, also über Lückenfüller, die leider nur ein blasses Bild über ihn abgeben. Da hilft uns keine Psychologie, bestenfalls Hermeneutik oder Literatursoziologie, die auch nur Wirkung und Auswirkungen seines Werkes und die Rezeptoren der Nachwelt, auf die Leser, durch intentionalen Zugang, durch Einsatz des eigenen Einfühlungsvermögens deuten lassen. Daher habe ich hier eine intentionale Disposition zum Werk des Autors eingenommen.


Mein Zugang
Jeder literaturbeflossene Mensch hat seinen Lieblingsautor. Er ist meiner literarischen und ästhetischen Bedeutungswelt, die ich mir kontrafaktisch – sprich gegen den Zeitgeist erworben habe, in den Rang des Lieblingsautors gewachsen. Denn ich habe ihn entdeckt durch eine Schrift von Cetin Yetkin, die unter dem Titel „Politische Herrschaft als Gegner der Kunst“ zu Anfang der 70er Jahre, in Türkisch erschienen ist. In den 90er Jahren erst, als ich an den Literaturtagen in Baden-Württemberg über Yasar Kemal – den Friedenspreisträger des Buchhandels referierte, entdeckte ich die stärkere Anziehungskraft von Orhan Kemal auf mich. Nebenbei, in den Vorbereitungen zum Referat las ich „Vaterhaus“ und war sehr begeistert. Yasar Kemal verblasste nun in meinem literarischen Wertecodex. Ich lieh mir etliche Romane aus, stieg sozusagen nach mehr als 25 Jahren – nach meiner Entdeckung, ins Werk Orhan Kemals ein. Ich habe mich immer mehr in seinen Bann, gerne, ziehen lassen.

Themenwahl Orhan Kemals
Zweifellos hat er bisher den besten Querschnitt der türkischen Gesellschaft, tiefes Wissen über ihre vergessenen Schattenseiten überliefert: es sind die 30er, 40er und 50er Jahre!! Man kann sagen, die finsteren bzw. unterbelichteten Jahre, die sich der klaren Erkenntnis abgeschottet haben, oder von Protagonisten und die jeweiligen Genießer der politischen Pfründe glorifiziert worden sind. Jahre des sich durchsetzenden, nicht gewaltscheuen Staatsrigorismus, die man den ‚Kemalisten’ zur Last legen muss. Sie haben Monopol über Kunst und Literatur ausgeübt, durch Zensur, verordnete Themen, gesteuertes Aushungern von Autoren versucht die geistigen Kräfte zu reglementieren. Vor diesem Hintergrund geht ein Stern namens M.Sakir Ögütcü (oder: Orhan Kemal) auf, auf den die Literaturverwalter aufmerksam werden. In seinen Themen ist er so ungewöhnlich, dass man ihn gar als einen Cometen bezeichnen sollte. Er streifete den Himmel, leuchtete sehr hell und erlosch bald. Gerade darin liegt seine Mächtigkeit, sein Zauber und sein Geheimnis, so dass man öfters Renaissance seines Werkes erlebt. Seine Helden sind Frauen, einsame Straßenkinder, Ausgestoßene der Gesellschaft, Arbeiter und kleine Beamte, Gefängnisinsassen: ich möchte kurz sagen – die Übergangsmenschen, die eine tiefe, langanhaltende Spur hinterlassen haben zu entdecken, wenn ein Romancier wahrhaft, nicht blind und taub ist. In diesen Figuren hat er den subtilen Wandel der Gesellschaft abgezeichnet, der später gewaltige Ausmaße annehmen wird. Er sieht als Ur-Soziologe Migrationsprozesse, Veränderungen und Verelendungen, soziale Dynamiken, und als Romancier nimmt seismographisch genau die seelischen Erschütterungen bei den Menschen wahr.

Politischer Standort
Für die Literatur ist politische Zuordnung eines Autors nicht von belang; mag schon sein, dass gerade eine eklatante Schwäche des türkischen Literaturbetriebs in der umgekehrten Auffassung auszumachen ist. Orhan Kemal war weder Sozialist, noch Republikaner, was man als Grundton aus seinen Briefen entnehmen kann. Aber er ist stets ein revolutionärer Demokrat gewesen, könnte eher als ein Wegbereiter für etwas mehr sozialistische Substanz einer Demokratie gelten. Aber bitte nicht mit einem deutschen Sozialdemokraten zu vergleichen, mit diesen Radischen, um mit K.Tucholsky zu beziehen. Revolutionärer Demokrat zu sein, trifft zu, weil er den Hoffnungen, Bedürfnissen und Sehnsucht der Menschen Ausdruck verlieh, die ihre Stimmen außerhalb bestehender Zensur-Förder-Regelwerke mit demokratischen Etikett nicht erheben können. Und ihre Zahl war (und ist) in der Türkei beträchtlich. Orhan Kemal – zu Leb- und Wirkzeiten – hat „demokratische Prozesse“ sehr ernst genommen und wurde deswegen zum Opfer der politischen Intrigen, die herrschende Mächte auf der Suche nach Sündenböcken in der kulturpolitischen Landschaft suchten, um vom Abdriften der Kemalisten von ihrer Grundidee der Legalität, Libertät usw. abzulenken.

Ästhetische Spuren
Er hat unwiederbringlich und nicht mehr wiederholbar Maßstäbe hinterlassen, die man zusammenfassen kann in dem Attribut der erzähltauglichen Sprache, deren Komponenten Brillanz, Aussagekraft, Natürlichkeit und Klarheit sind. Zu dem Schluss kann man wahrlich kommen, wenn man seiner Stimme gewahr wird. Ich konnte sie zu Lebzeiten Orhan Kemlas leider nicht erleben, stellte es aber fest aufgrund einer Tonaufnahme. Es ist sein verdienst, erkennbar an seiner Sprache, auf die Zähigkeit der gesellschaftlichen Missstände hingewiesen zu haben, die unter Zwang ihrer demokratischen Veränderlichkeit in Diskurse des Parlamentarismus verschoben werden, wo sie ideologisch verpackt und verzerrt sind aus Scheu vor Wahrheit und Redlichkeit, z.B. im Roman „Der Kartentrickser“ Ganz verkehrt liegen Literaturkritiker, die ihn in die Schublade packen wollen als angeblicher Vertreter „des sozialistischen Realismus“, „Naturalismus“, des „Regionalromans“ oder des „Dorfromans“. Er wäre zum stillen Giganten gewachsen, hätte er nur ein längeres Leben geschenkt bekommen. Oder war es Gunst der Geschichte, kurz gelebt zu haben um sprachliche Wirkung, um Mächtigkeit in der Seelenverwandtschaft mit den großen Utopisten der Weltliteratur??

Vergleiche
Vergleiche hinken, zumal wenn es ihm nicht möglich ist, die eigene Meinung kundzutun. Ein Vergleich ist kein Muss, um Orhan Kemals Werk annähernd richtig zu bewerten. Er rief den Kritikern zu: “Ärgert euch nur, ich habe meine Leser“. Ich kann ihn unter bestimmten Gesichtspunkten vergleichen mit deutschen Autoren: S.Lenz, W.D.Schnurre, weniger mit Böll und Grass. Denn die letzten Beiden sind eher Fixsterne, die schimmern immer wieder, aber man benötigt Fernrohrteleskope, Messstationen und astronomische Fachleute. Während die ersten Beiden mich eher verzaubern, weil sie wie Orhan Kemal Kometen sind.